37°: Wir hör'n uns, wenn ich tot bin! Trauer und KI
Film von Bettina Wobst und Julia Winschewski
"Trauer ist Liebe in ihrer wildesten Form", heißt es. Ein naher Mensch ist gegangen und hinterlässt eine große Lücke. Könnte der Einsatz von Künstlicher Intelligenz den Schmerz lindern?
"37°" begleitet erstmals in Deutschland zwei Frauen, Sarah (35) und Diana (35), die große Hoffnungen in die neuen Möglichkeiten von KI setzen.
- ZDF Mediathek, Ab Dienstag, 16. September 2024, 08.00 Uhr
- ZDF, Dienstag, 22. Oktober 2024, 22.15 Uhr
Texte
Inhalt
Moderne Trauertechnologien (Grief Tech) ermöglichen es, einen Avatar oder Chatbot von sich selbst oder von einem Verstorbenen für die Ewigkeit zu erzeugen. Was aber hat das für Auswirkungen – ethisch, rechtlich und vor allem für die menschliche Seele?
"37°" begleitet Sarah (35), die ihre Tochter verloren hat und Diana (35), die unter dem Tod ihres Vaters leidet. Beide setzen für ihre Trauerbewältigung große Hoffnungen in die neuen Möglichkeiten von KI.
Sarah (35) kämpft sehr mit dem Verlust ihrer 17-jährigen Tochter Elina. Diese ist zwei Jahre zuvor Opfer eines Gewaltverbrechens geworden und litt seitdem unter einer starken posttraumatischen Belastungsstörung. Im Januar 2024 hat sich Elina das Leben genommen. Sarah kann das als Mutter kaum ertragen. Die Berufsschullehrerin ist arbeitsunfähig und besucht regelmäßig eine Psychotherapeutin. Halt geben ihr die zwei Söhne und Ehemann Tim. Doch Sarah setzt auch große Hoffnungen in eine KI. "Ich weiß, dass ich Elina nicht zurückholen kann. Aber vielleicht kann sie eine KI so simulieren, dass ich dadurch die Worte sagen kann, die mir noch wichtig sind, und sie antwortet auf ihre ganz eigene Art? Ich konnte doch nie Abschied nehmen. Das stelle ich mir tröstlich vor."
Auch Diana (35) kennt den tiefen Schmerz, den der Tod mit sich bringt. Deshalb will die alleinerziehende Mutter eine "Conversational AI" von sich erstellen: Ein digitales Abbild von sich selbst, mit dem sich ihre Tochter Ella (4) auch nach dem Tod von Diana unterhalten könnte. "Man weiß nie, wann man gehen muss. Aber warum soll man überhaupt Abschied nehmen?" fragt Diana. Viier Jahrevor dieser Entscheidung hat sie ihren Vater verloren. Die Trauer überfällt sie oft in Wellen, unvorhersehbar, aber sie will die Erinnerung an ihn festhalten. Diana bereut, nicht mehr Videoaufnahmen oder Fotos von ihm zu haben und denkt nun viel über ihren eigenen Tod nach. "Meiner Tochter trotzdem noch ein wenig Mama sein zu können, nie ganz weg zu sein, wie schön wäre das? Meine Werte, meinen Humor, meine Liebe für sie bewahren, das ist doch etwas Gutes?"
Außer Sarah und Diana befragt der Film auch ChatGPT zu Themen der menschlichen und virtuellen Trauerbegleitung. Es geht um die Auswirkungen von digitalen Avataren auf den Abschiedsprozess und um das Suchtpotenzial für trauernde Angehörige. Im Gegensatz zum amerikanischen und asiatischen Markt gibt es in Deutschland noch sehr wenige Erfahrungen mit "KI-Trauerangeboten". Der Film lotet diese neuen Möglichkeiten aus.
Trauer muss nicht unbedingt Abschied bedeuten" – Die Filmemacherinnen Bettina Wobst und Julia Winschewski zu ihrer Dokumentation
Bettina Wobst
Vor diesem Filmdreh wusste ich nicht viel über "künstliche Intelligenz". Natürlich habe ich mal kurz mit ChatGPT gechattet, als es neu "auf den Markt" kam oder erstellte auch mal zum Spaß lustige Bilder. Aber das alles war weit weg von meiner Lebenswirklichkeit. Als Filmemacherin fühle ich mich eben mehr den Menschen und ihren Geschichten verbunden. Aber als ich begann, für diesen Film zu recherchieren, war ich überrascht, wie sehr KI schon "mitten unter uns" angekommen ist und eben auch bei den sensibelsten und schmerzhaftesten Momenten des menschlichen Lebens, bei Tod und Trauer als "Analytikerin" mitredet oder auch schon als "Trauerhelferin" aktiv wird. Geht das zu weit? Diese Frage stellte ich mir sofort. Im letzten Jahr ist mein Vater gestorben. Er war mein engster Vertrauter und Freund. Die Trauer ist seitdem ständig zu Gast. Sie schmerzt und oft versuche ich, sie zu verdrängen. Aber als ich gefragt wurde, ob ich diesen Film, zusammen mit Julia Winschewski, drehen will, habe ich nach kurzem Überlegung Ja gesagt. Weil Trauer einen doch immer einholt und unsere Filmheldinnen einen vollkommen neuen Weg einschlagen wollten. KI nutzen, um zu reden, zu weinen, für seine Nachfahren etwas zu hinterlassen. Das fand ich mutig. Rückblickend kann ich sagen, dass ich diese Entscheidung nie bereut habe. Ich habe tiefe Gespräche geführt und viel gelernt, über die Möglichkeiten und Grenzen von KI als "Trauerhelferin", darüber dass Trauer nicht unbedingt "Abschied" bedeuten muss und dass Trauer eben sehr individuell ist. In Deutschland gibt es beim Thema KI noch viel Skepsis und berechtigterweise auch Ängste. Das war uns und unseren Filmheldinnen bewusst. Dass wir Sarah und Diana dennoch begleiten durften, dass sie mit uns ihren Schmerz, ihre Gedanken und Hoffnungen geteilt haben, dafür bin ich sehr dankbar.
Julia Winschewski
Als junge Filmstudentin hatte ich kaum Berührungspunkte mit Tod und Verlust – bis vor drei Jahren, als meine geliebte Mutter während eines Urlaubs plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb. Der unvorbereitete Verlust stürzte mich in eine tiefe, schmerzhafte Trauer, die mein Leben grundlegend veränderte.
2022 stieß ich dann auf einen Artikel über "Grief Technologie". Der Gedanke, bald mit Verstorbenen durch Technologien in Kontakt bleiben zu können, faszinierte und verunsicherte mich zugleich. Da ich mich nicht von meiner Mutter verabschieden konnte, sehnte ich mich unglaublich danach, ihre Stimme noch einmal zu hören – nicht nur in alten Sprachnachrichten, sondern in echten Gesprächen. Ich wollte Antworten auf Fragen, die wir nie zu stellen wagten, weil wir nicht ahnten, wie wenig Zeit uns blieb. Diese Mischung aus Sehnsucht und Skepsis dieser neuen Technologie gegenüber ließ mich nicht mehr los.
Gemeinsam mit Bettina Wobst begab ich mich auf eine filmische Reise durch Deutschland, um herauszufinden, was im Bereich der Trauertechnologie in unserem Land überhaupt möglich ist. Ich wollte wissen, wie echte Menschen mit diesen neuen Technologien umgehen, ob sie wirklich Trost spenden können oder doch unvorhersehbare Risiken bergen. Ohne zu werten, begleiteten Bettina und ich zwei beeindruckende Frauen und durften dabei tief in ihre Erlebnisse blicken. Diese Dreharbeiten berührten mich auf unerwartete Weise und konfrontierten mich immer wieder mit meiner eigenen Trauer und meinem Verlust. Am Ende bin ich mir noch sicherer, als vorher, dass der Umgang mit Trauer sehr individuell ist und wir als Gesellschaft weiterhin daran arbeiten müssen, das Thema Tod und Trauer zu enttabuisieren.
Drei Fragen an den Soziologen Matthias Meitzler
Matthias Meitzler arbeitet als Soziologie an der Universität Tübingen. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Sterblichkeit und Gesellschaft.
Wie verändert sich die Trauerbewältigung in der Gesellschaft?
Obwohl Friedhöfe als traditionelle Stätten der Trauerbewältigung und des Gedenkens für viele Menschen weiterhin eine große Bedeutung haben, zeichnet sich seit geraumer Zeit ein Trend zur Delokalisierung ab. Damit sind zum einen die generelle Loslösung von vormals verbindlichen räumlichen Fixierungen und zum anderen ein allgemeiner Relevanzverlust des toten Körpers und dessen Verortung im Kontext von Trauer und Erinnerung gemeint. Diese Entwicklung wird durch das Aufkommen digitaler Angebote und deren Vorzüge weiter forciert.
Was sind die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet?
Dienste der Digital Afterlife Industry – sie greifen auf die Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) zurück und versprechen ein postmortales Weiterleben als Avatar, der sich mit den Weiterlebenden unterhalten kann. Hierzu werden das Kommunikationsverhalten, Persönlichkeitsmerkmale (Einstellungen, Überzeugungen, Geschmackspräferenzen, Hobbys usw.) und mithin auch die äußere Erscheinung einer Person anhand enormer Mengen der von ihr hinterlassenen digitalen Daten (z. B. E-Mails, Messengerverläufe, Social-Media-Postings, Kalendereinträge, Fotos, Videos, Sprachnachrichten usw.) simuliert. Neben vergleichsweise einfachen Formen, bei denen das zuvor gespeicherte Ursprungsmaterial während der Nutzung zwar selektiv ausgewählt, jedoch unverändert ausgegeben wird, existieren auch solche KI-Systeme, die aus den zugrundeliegenden Daten der Verstorbenen neuen Output generieren und in die Interaktion mit den Nutzerinnen und Nutzern einbringen. Der Avatar äußert dementsprechend Dinge, die die von ihm repräsentierte Person zwar nie so gesagt hat, es aber auf diese Weise sagen könnte, wäre sie noch am Leben.
Welche Gefahren birgt die Digital Afterlife Industry Ihrer Meinung nach?
Nutzerinnen und Nutzer könnte die Flucht in eine Art Scheinrealität ermöglicht werden, die zugleich mit einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld der analogen Welt einhergehen könnte. Manche der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer vergleichen dies sogar mit dem Konsum einer Droge, die zwar kurzfristig emotionalen Schmerz betäubt, langfristig jedoch weitere, zum Teil noch gravierendere Probleme mit sich bringt. Auch wird vermehrt die Sorge geäußert, dass persönliche Erinnerungen an die verstorbene Person von alternativen Inhalten, die das schwer zu durchschauende KI-System hervorbringt, überschrieben werden könnten. Letzterem wird somit ein manipulatives Potenzial zugeschrieben, das sich negativ auf das Wohlbefinden der Trauernden und ihr Verhältnis zu den Verstorbenen auswirkt.
Der Film zur Ansicht in der ZDFmediathek
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