Der vermessene Mensch

Als erster Kinofilm handelt "Der vermessene Mensch" vom Genozid, den die "Deutsche Schutztruppe" zwischen 1904 und 1908 in der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" begangen hat. Der Film erzählt von einem jungen Berliner Ethnologen, der zum Zeugen dieses Völkermords an den Herero und Nama wird – und dabei auch die eigenen moralischen Grenzen übertritt.

  • ZDF Mediathek, ad ut ab Samstag, 5. Oktober 2024
  • ZDF, ad ut Montag, 7. Oktober 2024, 20.15 Uhr
  • ARTE, ad ut Freitag, 4. Oktober 2024, 20.15 Uhr

Texte

Stab

Buch und Regie: Lars Kraume
Kamera: Jens Harant
Schnitt: Peter R. Adam
Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas
Ton: Stefan Soltau
Mischung: Martin Steyer
Kostüm: Esther Walz
Szenenbild: Sebastian Soukup
Produzent: Thomas Kufus
Koproduzenten: Kalle Friz, Sandrine Mattes, Miriam Düssel, Susanne Freyer, Stefanie Hufschmidt
Redaktion: Caroline von Senden (ZDF), Andreas Schreitmülller (ARTE)

"Der vermessene Mensch" ist eine Produktion von zero one film in Koproduktion mit dem ZDF, Studiocanal Film, Akzente und Wunderwerk, in Zusammenarbeit mit ARTE. Gefördert wird der Film durch das Medienboard Berlin-Brandenburg, die Film- und Medienstiftung NRW, die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Filmförderungsanstalt und den Deutschen Filmförderfonds.

Besetzung

Alexander Hoffmann – Leonard Scheicher
Kezia Kambazembi – Girley Charlene Jazama
Professor von Waldstätten – Peter Simonischek
Oberleutnant Wolf von Crensky – Sven Schelker
Korporal Kramer – Max Koch
Fähnrich Hartung – Ludger Bökelmann
Bernd Wendenburg – Leo Meier
Friedrich Maharero – Anton Paulus
Missionar Kuhlmann – Tilo Werner
General Lothar von Trotha – Alexander Radszun
Major Ludwig von Estorff – Michael Schenk
Henriette Hoffmann – Corinna Kirchhoff
u.v.a.

Inhalt

Als erster Kinofilm handelt "Der vermessene Mensch" vom Genozid, den die "Deutsche Schutztruppe" zwischen 1904 und 1908 in der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" begangen hat. Der Film erzählt von einem jungen Berliner Ethnologen, der zum Zeugen dieses Völkermords an den Herero und Nama wird – und dabei auch die eigenen moralischen Grenzen übertritt.

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Alexander Hoffmann ist ein ehrgeiziger Ethnologie-Doktorand an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Als im Zuge der "Deutschen Kolonial-Ausstellung" eine Delegation von Herero und Nama aus der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" nach Berlin reist, lernt Hoffmann die Dolmetscherin der Gruppe, Kezia Kambazembi, kennen. Hoffmann entwickelt ein intensives Interesse an den Herero und Nama – und widerspricht nach den Begegnungen und Gesprächen mit ihnen der gängigen evolutionistischen Rassentheorie. Nachdem der Aufstand der Herero und Nama in der Kolonie niedergeschlagen wird und die Kolonialherren einen blutigen Vernichtungskrieg beginnen, reist Hoffmann im Schutz der kaiserlichen Armee durch das Land und sammelt für das Berliner Völkerkundemuseum zurückgelassene Artefakte und Kunstgegenstände. In Wahrheit sucht er jedoch weiter nach Beweisen für seine These – und nach Kezia. Vor Ort erlebt Hoffmann mit, wie deutsche Soldaten mit unmenschlicher Härte den Vernichtungsbefehl ausführen. Doch auch der Ethnologe überschreitet zunehmend moralische Grenzen, als er einwilligt, seinem Berliner Professor Schädel und Skelette von toten Herero zum Zwecke der Forschung zu schicken.

"Aus der Täterperspektive" - von Frank Zervos (ZDF)

Die Kino-Koproduktion "Der vermessene Mensch" war bei ihrer Veröffentlichung im Jahr 2023 der erste deutsche Kinofilm, der deutsche Kolonialgeschichte auf die Leinwand brachte. Filmemacher Lars Kraume und sein deutsch-namibisches Team sind einen langen gemeinsamen Weg gegangen, um sich erzählerisch ganz bewusst für eine Täterperspektive zu entscheiden. Denn die Geschichte der großen Freiheitskämpfer der unterdrückten Völker im heutigen Namibia gehört deren Nachfahren und sollte nicht von Deutschen erzählt werden. Doch gerade mit dieser Erzählhaltung löste die Produktion nach der Premiere auf der Berlinale eine hitzige Debatte aus.

Generell gibt es in Deutschland zu wenig Kenntnis über den Krieg und die Vertreibung und Vernichtung der Herero und Nama im ehemaligen "Deutsch-Südwestafrika" und über die Rolle der Wissenschaft bei diesen mörderischen Geschehnissen. Vielleicht ist gerade deshalb in den letzten Jahren eine heftige Diskussion über strukturellen Rassismus, Dekolonisierung und anhaltende koloniale Ausbeutung geführt worden.

An die ZDF-Ausstrahlung schließen wir eine geschichtswissenschaftliche Dokumentation an. Dort führt die namibischstämmige Juristin Ngutijua Hijanguru-Kutako die Zuschauerinnen und Zuschauer durch ihr Heimatland und spricht mit Wissenschaftlern und Historikern. Zusätzlich wird es weitere Informationen und Begleitsendungen in der ZDFmediathek und im Programmumfeld geben, um einem hoch relevanten, aber nur wenig beachteten Thema Raum zu geben ‒ dem Krieg, der Vertreibung und der Vernichtung der Herero und Nama im ehemaligen "Deutsch-Südwestafrika" und der Rolle der Wissenschaft bei diesen mörderischen Geschehnissen.

Frank Zervos, Hauptredaktionsleiter Fernsehfilm/Serie I, stellvertretender Programmdirektor

"Wichtiger denn je" - Claudia Tronnier (ARTE)

Aus Sicht von ARTE als deutsch-französischem Sender mit einer starken europäischen Ausrichtung ist "Der vermessene Mensch" ein ganz wichtiger Beitrag zum Gesamtprogramm. Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus spielt auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern eine große Rolle. Filme wie "Dahomey" (Goldener Bär Berlinale 2024) und Serien wie "Blood River", die ebenfalls von ARTE koproduziert wurden, erzählen davon aus unterschiedlichen Ländern und Perspektiven. Und das ist heute wichtiger denn je.

Claudia Tronnier, Leiterin der ARTE-Hauptabteilung Spielfilm und Fernsehfilm

"Eine unerzählte Geschichte" - Interview mit Lars Kraume anlässlich des Kinostarts

Herr Kraume, "Der vermessene Mensch" ist nach mehreren historischen Filmen Ihr erster Film zum deutschen Kolonialismus. Was ist Ihr persönlicher Bezug zu dem Thema?

Ich bin 1992 und 1993 nach Namibia gereist, direkt nach der Schule. Kurz zuvor, im Jahr 1990, war Namibia als letztes afrikanisches Land unabhängig geworden. Ich habe einfach nur gestaunt, die Spuren deutscher Kolonialzeit in so einem Land noch eingeschrieben zu sehen. Man kennt das aus britischen oder französischen Kolonialgebieten, aber kaum aus der deutschen Geschichte. In Swakopmund gibt es eine Bismarckstraße, und es wird Schweinshaxe gegessen. Ich war noch ganz jung und sehr irritiert, weil ich davon überhaupt nichts wusste.

Wie aktuell diese koloniale Vergangenheit tatsächlich ist, sieht man an den Debatten der letzten Jahre, um Raubkunst und den Umgang mit den verschiedenen ethnologischen Museen, allen voran dem Humboldt Forum in Berlin. Meine letzten Filme haben sich immer mit deutscher Vergangenheit befasst, und ich empfinde die deutsche Kolonialzeit immer noch als eine weitgehend unerzählte Geschichte.

Auch im deutschen Film bildet der Kolonialismus also eine Leerstelle?

Es gibt kaum deutsche Filme, die sich damit beschäftigen. Es gab Nazi-Propagandafilme über die Kolonialzeit, etwa über Carl Peters, einen schrecklichen Mann. Dann gibt es zwei großartige Filme von Werner Herzog über Kolonialismus und Sklavenhandel. Aber die haben nichts mit dieser Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun. Unser Film soll an den Genozid an den Herero und Nama erinnern.

Uwe Timms Roman "Morenga" kam 1978 heraus und wurde sogar als Fernsehserie adaptiert. Warum ist das Thema deutscher Kolonialismus heute trotzdem kaum präsent? 

"Morenga" von Uwe Timm ist der bedeutendste Roman zu diesem Thema. Er war ein wichtiger Anfangspunkt für uns. Wir haben uns lange mit dem Buch beschäftigt und auch mit Uwe Timm viel gesprochen. Ich kenne auch die Verfilmung. Das Buch ist ungeheuer umfangreich. Obwohl es ein Soldatenroman ist, ist er sehr kritisch gegenüber dieser Kolonialdiktatur, von deren Gräueln uns die Hauptfigur berichtet. Das Fernsehen hat einen Dreiteiler daraus gemacht, aber danach hat sich niemand mehr filmisch mit dem Thema beschäftigt. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Aber es hat vermutlich mit dem zu tun, was uns auch immer wieder entgegengehalten wurde: Die deutsche Geschichte sei so schon unerträglich und grauenvoll, wer will da noch auf ein anderes Schlachtfeld schauen, wer will von dem unbekannten Genozid etwas hören?

Man hätte auch einen Film über Jakobus Morenga oder Hendrik Witbooi machen können, das sind starke Rebellenfiguren dieser Zeit. Warum nicht?

Die einzig legitime Erzählperspektive für uns ist die Täterperspektive. Damit verbietet sich eine deutsche Heldenfigur. Und die tragische Heldenreise eines Morenga zu erzählen, wäre kulturelle Aneignung in einer Form, die ich nicht akzeptabel finde. Witbooi, der Führer der Nama, ist eine ähnlich schillernde Figur wie Morenga. Seine "Witbooi-Papers" habe ich gelesen. Weil die Deutschen relativ spät zur Kolonialmacht wurden, und er sehr gebildet war, war ihm völlig klar, was die Deutschen vorhatten. Er hatte den Vergleich aus anderen Gebieten wie der englisch besetzten Kap-Kolonie. In seinen Briefen kann man die politische Weitsicht erkennen. Witbooi ist faszinierend, aber seine Geschichte müssen Nama-Regisseure erzählen. Wir müssen mit unserer Geschichte klarkommen, und unsere Geschichte ist die der Kolonisatoren, der Missionare, der Kaufleute, der Soldaten und Ethnologen. Früher hätte sich das Kino einfach die Geschichten der Freiheitskämpfer wie Morenga und Witbooi ungefragt genommen, wie zum Beispiel Mel Gibson in "Braveheart". Aber diese Zeiten sind vorbei.

Stattdessen ist die Hauptfigur der Ethnologe Hoffmann. Wie würden Sie ihn und seine Absichten beschreiben? Dient er uns heutigen auch als Identifikationsfigur, bildet er eine Brücke?

Wir sehen im Kino gerne Heldenfiguren, als Projektionsfläche dessen, was wir gerne wären. Das ist bei einer so düsteren Geschichte einfach nicht möglich. Noch einmal: Es gibt leider nur sehr wenige deutsche Helden im 20. Jahrhundert. Dennoch ist Hoffmann eine Figur, in der wir uns als Menschen spiegeln können, eben weil er korrumpierbar und moralisch nicht gefestigt ist. Am Anfang der Geschichte ist er vor allem naiv. Wie die meisten Menschen ist er weder böse noch besonders gut, aber er arbeitet in einem finsteren Geschäft. Schon in der ersten Szene muss er den Schädel eines toten jungen Mannes, der bei einer Messerstecherei gestorben ist, kaufen und auskochen lassen, um ihn als Objekt in der Universität zu präsentieren. Seine Wissenschaft ist also von Anfang an unheilvoll mit dem Tod verbunden. Heute betrachten wir die Phrenologie, also Schädelkunde als Pseudowissenschaft. Gleichzeitig gehört er zu den Akademikern jener Zeit, die den Rassismus widerlegen wollen. Für ihn gibt es nur eine Menschenrasse, den Homo sapiens. Alle Unterschiede beruhen laut diesem "Diffusionismus" auf kultureller Prägung. Er widerspricht damit dem "Evolutionismus", den Rassisten, die deutlich in der Mehrheit waren. Auf seiner Reise sieht er dann, zu welchen Gräueln der Kolonialismus in der Lage ist. Was er in "Deutsch-Südwestafrika" erlebt, verändert ihn und bringt ihn an den Rand seiner eigenen Existenz. 

Auf einer "Völkerschau" in Berlin lernt Hoffmann die Herero-Frau Kezia kennen. Welche Rolle spielt sie in seinem Erkenntnisprozess?

Bei unseren Recherchen stießen wir auf die Völkerschau von 1896 im Treptower Park in Berlin. Eine Delegation der Herero und Nama war angereist in der Hoffnung, hier diplomatische Beziehungen aufnehmen zu können. Tatsächlich wurden sie in einem Menschenzoo ausgestellt. In dieser Situation also tritt der naive und kulturell interessierte Ethnologe auf Kezia. Er soll ihren Kopf vermessen, zum Zwecke der Rassenforschung und Intelligenzbestimmung. Diese Schädelvermessung ist verrückt und zutiefst rassistisch, und wird von Kezia als ungeheure Erniedrigung empfunden. Auch er merkt, dass er eine Grenze überschritten hat. Womit er allerdings weitermachen wird, was man kurz darauf in einem Moment sieht, indem er sie etwas zu zärtlich anfasst. Er kommt aus einem rassistischen Kontext, und auch sein Konformismus wird früh erkennbar.

Gibt es dafür historische Vorbilder?

Die historischen Vorbilder sind etwa Adolf Bastian (1826‒1905), der Gründer des Völkerkundemuseums Berlin und auch sein Direktorialassistent Felix von Luschan (1854‒1924). Sie sind allerdings eine etwas ältere Generation und daher vielleicht eher Vorbilder für den Professor, gespielt von Peter Simonischek. Insgesamt waren für mich die Biografien dieser Ethnologen der ersten Stunde interessant, wie auch zum Beispiel Leo Frobenius (1873‒1938).

Girley Jazama, die die weibliche Hauptrolle spielt, stammt selbst aus Namibia. Inwieweit waren namibische Künstlerinnen und Künstler in das Projekt eingebunden?

Wer vom Kolonialismus redet, muss auch von den Opfern reden. Und man muss mit ihnen reden, ihnen Raum geben, ohne ihnen ihre Geschichte wegzunehmen. Girley ist selbst Herero, außerdem Autorin und Produzentin, und sie war für mich die wichtigste Beratung, um die Figur in ihrer Zeit zu verstehen. Zum Beispiel hat sie mir klargemacht, dass man hier keine Liebesgeschichte erwarten darf. Für eine Herero-Frau zu dieser Zeit gibt es keine sinnliche oder erotische Beziehung zu einem weißen deutschen Mann, weil Besatzung, Gräuel und Gewalt längst begonnen haben. So viele namibische Mitarbeiter wie möglich zu beschäftigen, war uns aus vielerlei Gründen wichtig. Die Kleidung der Herero etwa wurde von Cynthia Schimming kreiert, einer inzwischen leider verstorbenen namibischen Kostümbildnerin, die auch schon am Ethnologischen Museum im Humboldt Forum gearbeitet und sich sozusagen wissenschaftlich mit den historischen Kostümen der Herero beschäftigt hat. Das Dorf, in dem wir gedreht haben, wurde komplett gebaut von Himba, einer verwandten Volksgruppe, die immer noch traditionell leben und die traditionellen Bauweisen kennen.

Stichwort Wissenschaft: Welche Rolle spielte die im Kolonialismus?

Die "Rassenforschung" der damaligen Zeit diente dem Kolonialismus als wissenschaftliche Legitimation und führte letztlich zu den Rassentheorien der Nazis. Auf diesem Feld arbeitet unser Ethnologe, aber die Tragödie der deutschen Ethnologiegeschichte zu dieser Zeit reicht noch weiter: Einerseits haben die Ethnologen gesehen, dass der Kolonialismus auf der ganzen Welt Kulturen unwiederbringlich zerstört. Davon wollten sie so viel wie möglich studieren, besitzen und damit auch bewahren. Wissenschaftler haben tatsächlich mit Offizieren paktiert, um an gewisse Gegenstände ranzukommen. Sie haben gekungelt, geraubt und Gräber geschändet, um ihre Sammlung zu füllen. Als deutsche Ethnologen die Benin-Bronzen auf Auktionen in London kauften, wussten sie, dass die Engländer sie gestohlen hatten. Aber es war ihnen egal.

Zu dem Diebesgut der ethnologischen Sammlungen zählen auch menschliche Überreste, darunter Schädel der Herero, die Hoffmann sammelt. Dieser besonders düstere Aspekt der Geschichte wird auch in einigen Dialogen behandelt. Was war Ihnen dabei wichtig?

Die Schädel, die noch immer zu Tausenden in Deutschland lagern, müssen sofort restituiert werden. Sie sind das stärkste Symbol dafür, wie unglaublich aktuell diese verdrängte Geschichte ist. Im Film wollten wir verschiedene Positionen verdeutlichen, die im Kolonialismus eine Rolle spielen. Da gibt es einen Missionar, einen Soldaten. Ein Kaufmann wäre eigentlich auch wichtig gewesen. Der Offizier Crensky ist eine wichtige Figur, als ein Befehlsempfänger, der einfach nur seinen Dienst tut. Er wird in ein Land geschickt und soll dort Krieg führen. Gegen ein, aus der Sicht des Kaiserreichs, rebellisches Untertanenvolk, das sich gefälligst fügen soll. Insofern hat er eine relativ klare Position, die man aus der deutschen Geschichte gut kennt: der Soldat, der seine Befehle nicht infrage stellt. Mit dem Ethnologen gerät er in einen moralischen Disput, weil der sagt: Ihr seid die Handlanger der Kaufleute, ihr macht euch hier schuldig. Der Soldat wiederum entgegnet, vor ihm hätten die Herero gar nicht so viel Angst, weil er sie nur tötet. Hoffmann hingegen, der Schädel sammelt, nehme auch noch ihre Geister mit. Da stellt sich durchaus die Frage: Wer ist eigentlich schlimmer, die Soldaten oder die Wissenschaftler.

Die Szene zeigt auch, welche Bedeutung die Schädel für die Herero haben.

Das macht es ja so schrecklich. Weil die Phrenologen die Schädel mitgenommen haben, kommen die Toten nicht zur Ruhe. Man muss sich nur vorstellen: Würde der Kopf meiner Urgroßmutter in einem Museum in Windhoek lagern, würde ich den auch zurückhaben wollen, um ihn zu beerdigen. Auch Christen wissen schließlich, was eine Bestattung ist. Wie diese Doppelmoral der angeblich so "zivilisierten" Kolonialherren zu legitimieren sein könnte, erschließt sich nur, wenn man Rassist ist. Es ist auch nicht zu begreifen, wieso diese Schädel nicht längst alle restituiert sind.

Die Darstellung von Völkermord gilt auch in Bezug auf den Holocaust seit jeher als besonders problematisch. Wie sind Sie vorgegangen?

Ich finde dieses Problembewusstsein völlig richtig. Manchmal denke ich: Was ist in den letzten Jahrzehnten eigentlich passiert, dass wir so vollkommen schamlos denken, alles inszenieren zu können, was es an deutscher Geschichte gab? Man muss schon sehr genau überlegen, was man macht und wie man es macht. Wenn man einen Genozid zur Kolonialzeit inszeniert, zeigt man weiße Männer, die schwarzen Menschen Gewalt antun. Jeder Film, der versucht, das so hart und realistisch zu inszenieren, wie es vielleicht wirklich war, scheitert fast immer, weil die Realität einfach noch viel brutaler ist. Man muss sich nur vorstellen, was es bedeutet, einem Volk kollektiv den Tod zu erklären. Das ist das, was General von Trotha gemacht hat. Das Elend, das diesen Menschen widerfahren ist, ist nicht zu inszenieren. Wir haben es daher nur angedeutet. Normalerweise würde das Kino etwas anderes machen, die Gewalt nämlich zu Sensationszwecken ausbeuten. Und das ist in einer Zeit, die immer noch so stark von Rassismus geprägt ist wie unsere Gegenwart, einfach nicht okay. Wir verheimlichen natürlich auch nichts. Man weiß schon, was da passiert. Aber wir versuchen nicht, die Gewalt spekulativ auszubeuten.

Wir sprechen von Erschießungen, vom Verdursten in der Wüste.

Der Genozid bestand zum größten Teil darin, dass man das Volk in die Omaheke-Wüste getrieben hat, um es dort verdursten zu lassen. Dazu haben die deutschen Soldaten alle Wasserlöcher besetzt. Im Film zeigen wir von einem Berg aus der großen Totale den Versuch der Menschen, nach Botswana zu flüchten. Aber der Schnitt runter in die Wüste, wenn man das filmt, was da passiert ist, dann sprechen wir von Kriegern, die ihre frischgeborenen Babys zurücklassen, um die Milch der Frauen zu trinken, damit sie wehrhaft bleiben. Von Menschen, die das Blut ihrer Ziegen trinken. Und einfach in der Wüste verdursten. Dieses Leid zu filmen, bedeutet einen Horrorfilm zu drehen. Stattdessen war es uns wichtig, mit der Kamera eine gewisse Distanz zu wahren, die neutral bleibt, nicht manipuliert. Auf einer anderen Ebene ist die Musik ein wichtiges Mittel. Sie schafft eine permanente Angst und Unruhe.

Sie sind mehrmals nach Namibia gereist. Welche Rolle spielt der Völkermord dort? Wie wird seiner gedacht?

Nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit wurde das heutige Namibia von Südafrika besetzt, bis 1990. In diesen siebzig Jahren wurde nicht viel über den Genozid an den Herero und Nama geredet. Erst seit der Unabhängigkeit in den 1990ern kam das Thema wieder auf. Seitdem gewinnt es zwar zunehmend an Bedeutung, aber leider vor allem nur für die Opfergruppen und erst sehr langsam für die Bundesregierung. Seit vielen Jahren wird nun über Reparationen und Restitution verhandelt. Eigentlich müsste der Bundespräsident längst um Entschuldigung gebeten haben. Aber immerhin laufen inzwischen diese Gespräche und Verhandlungen. 

Was sind dort in Bezug auf Restitution und Reparation die wichtigsten Streitfragen?

Im Land selbst sind die Herero und Nama nur eine Minderheit. Die Verhandlung der Bundesregierung mit der namibischen Regierung ist also auch darum umstritten, weil diese die Herero und Nama nur unzureichend abbildet. Aber Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, die den großartigen Bericht zum Thema afrikanischer Raubkunst geschrieben haben, sagen ganz klar: Fast die gesamten Kunst- und Kulturschätze des Gebiets der Subsahara lagern heute in Europa. Die müssen alle zurück, weil diese Gesellschaften und Länder keine kulturelle Identität ausbilden können, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, mit ihrer Vergangenheit, mit ihrer Kunst und Kultur in irgendeiner Form in Verbindung zu treten. Und in diesen Bereich der Restitution fallen auch die menschlichen Überreste. Auch die gehören zurückgegeben, mit all den Artefakten, die hier in Museen lagern.

Was wollen Sie mit Ihrem Film erreichen?

Ich hoffe, dass die Zuschauer nach dem Film über ein weitgehend verdrängtes Kapitel der Geschichte nachdenken, diskutieren und von mir aus streiten. Dann hoffe ich, dass die Diskussion so laut wird, dass wir endlich alle Human Remains restituieren, in der Frage der Restitution geraubter Kulturgüter weiterkommen und schließlich das lang verhandelte Reparationsabkommen zwischen der Bundesrepublik und Namibia so zustande kommt, dass es von den Vertretern der Opfergruppen der Herero, Nama, Damara und San akzeptiert wird. 

Der Film kann natürlich nur ein kleiner Beitrag zu diesen großen Zielen sein. Er kann vielleicht vor allem eins schaffen: Er liefert emotional aufgeladene Bilder zu einer Zeit, die fotografisch kaum dokumentiert ist. Im Film sieht man, wie ein Ethnologe Kulturgüter raubt, was es bedeutet, Schädel zu sammeln, wie General von Trotha laut Quellenberichten seinen grausamen Befehl verliest und zwei Männer hängen lässt und wie ein Volk in die Wüste zum Verdursten geschickt wird. Der Film soll den Blick auf eine Wunde lenken, die nie verheilt ist.

Aufwand und Anstrengung, Herzblut und Hoffnung - Produktionsnotiz von Thomas Kufus

Einen Spielfilm über die Kolonialzeit im heutigen Namibia zu drehen, über die blutige Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama und den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, war eine besondere Herausforderung. Obwohl die koloniale Vergangenheit Deutschlands filmisch kaum bearbeitet wurde, ist Postkolonialismus ein sehr aktuelles und heikles Thema, das kontrovers diskutiert wird. Unser Vorhaben erforderte daher eine besondere Erzählform, Sensibilität und auch Überzeugungskraft bei der Finanzierung.

Neben den Dreharbeiten an Originalschauplätzen war es ein besonderes Anliegen von Lars Kraume und mir, den Film nur in enger Zusammenarbeit mit namibischen Partnern zu realisieren. Bereits während der Drehbuchentwicklung fand ein reger Austausch mit lokalen Historikerinnen und Wissenschaftlern und den Nachfahren der Herero und Nama statt. Teilweise waren während der Dreharbeiten bis zu 2.000 Personen aus Namibia beteiligt. Die Besetzung der Figur Kezias mit dem Shooting-Star Girley Charlene Jazama stellte sich als Glücksfall heraus, da sie auch am Drehbuch intensiv mitgearbeitet hat. Die Schauspielerin und Filmproduzentin gehört zum Volk der Herero, und für sie war ihre Rolle eine wichtige, aber auch sehr schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Familienvergangenheit.

"Der vermessene Mensch” ist ein Projekt, in dem neben viel Aufwand und Anstrengung auch viel Herzblut und Hoffnung steckt. Daher war es ein besonderes Highlight, den Film nach seiner Fertigstellung in Namibia zeigen zu können: Mit einem mobilen Kino an fünf Orten in Herero-Gebieten, vor Menschen, die beeindruckt waren, dass ihre Geschichte nun verfilmt wurde und weltweit zu sehen sein wird. Wir glauben fest daran, dass der Film – insbesondere auch durch die enge grenzübergreifende Zusammenarbeit während der Entstehung – einen wichtigen Dialog ermöglicht. Er kann kein vollständiges historisches Dokument sein, sondern eine erste Annäherung an ein sehr komplexes Thema. Wir hoffen, den Anstoß für weitere und vielfältige Blickwinkel gegeben zu haben, insbesondere auch für Filme, die originär in Namibia entstehen. 

"Persönliche Tragweite" - Interview mit Girley Charlene Jazama (Kezia Kambazembi)

Sie haben an der Entstehung des Films mitgewirkt. Wie waren Sie hier konkret involviert?

Ich spiele die Rolle von Kezia Kambazembi und habe auch die Drehbuchautoren beraten.

Welchen Herausforderungen sind Sie als Schauspielerin bei der Verkörperung von Kezia Kambazembi begegnet?

Die Rolle der Kezia Kambazembi in "Der vermessene Mensch" war eine emotionale und schauspielerische Herausforderung. Ich fand es von Anfang an schwierig, zwischen mir selbst und der Figur zu unterscheiden. Ich stellte mir ständig vor, dass meine Ururgroßmutter während des Völkermords ähnliche Dinge erlebte wie Kezia in dem Film. Durch diese persönliche Verbindung war die Rolle für mich emotional stark fordernd. Ich schauspielerte nicht nur, sondern durchlebte einen Teil meiner Familiengeschichte ganz neu.

Dazu kam die sprachliche Herausforderung: Wir drehten auf Deutsch, dabei spreche ich die Sprache nicht fließend. Ich musste meinen Text beherrschen und überzeugend vermitteln, ohne dass die emotionale Bedeutung von Kezias Geschichte verlorenging. Ich denke, letztlich habe ich es ganz gut hingekriegt.

Wie schätzen Sie persönlich die Bedeutung des Films für das deutsche Publikum ein?

"Der vermessene Mensch" gibt Gelegenheit, ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Weltgeschichte bekannt zu machen: den Völkermord an den Herero und Nama. Während der Vorführungen zeigte sich, dass manche Zuschauer von diesen tragischen Vorfällen gar nichts wussten – dabei handelt es sich um den ersten anerkannten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Viele kannten keinen anderen Genozid als den Holocaust. Der Film spielt also eine wichtige Rolle dabei, diese düsteren Ereignisse ans Licht der Weltöffentlichkeit zu bringen.

Und wie wurde der Film Ihrer Einschätzung nach in Namibia aufgenommen?

Der Film wurde in ganz Namibia sehr positiv und interessiert aufgenommen. Er rückt nicht nur ein schmerzhaftes Kapitel der namibischen Geschichte ins Rampenlicht, sondern gab den Nachfahren der Herero und Nama auch neues Vertrauen für ihre laufenden Verfahren und Entschädigungsforderungen. Indem er ihre Geschichte zu Gehör bringt, dient der Film als wichtiges Instrument in ihrem Kampf um Anerkennung und Entschädigung für die Gräuel, die ihren Vorfahren angetan wurden.

Was bedeutet der Film für Sie persönlich?

Die Mitarbeit an "Der vermessene Mensch" hatte für mich eine sehr persönliche Tragweite. Ich wollte unbedingt wissen, wo ich meine eigene Familie in diesem entsetzlichen Geschehen verorten sollte. Denn für eine Herero ist diese Geschichte noch längst nicht Vergangenheit – sie gehört zu meinem Vermächtnis. Durch die Mitarbeit an dem Film machte ich die schmerzhafte Entdeckung, dass meine Ururgroßmutter im Konzentrationslager Alte Feste gefangen gehalten wurde. Dort, in dem brutal engen Lager, wurde 1909 meine Urgroßmutter geboren. Wie genau sie gezeugt wurde, liegt im Dunkeln; inzwischen habe ich allerdings erfahren, dass sie im Lager vergewaltigt wurde. Ein tragisches Schicksal, das sie damals mit vielen Lagerinsassinnen teilte. Den Überlieferungen meiner Tante zufolge war meine Ururgroßmutter als "Tea Lady" für einen der Kommandanten tätig – das spricht Bände über die Machtverhältnisse und Missbräuche im Lager. Dank des Films habe ich nicht nur eine neue Verbindung zu meiner persönlichen Geschichte aufgebaut, sondern mich auch dem schmerzhaften Vermächtnis gestellt, das meine Familie, wie so viele andere, bis heute prägt.

„Der vermessene Mensch. Die Dokumentation“ - Ein Film von Jörg Müllner

Montag, 7. Oktober 2024, ca. 22.10 Uhr
In der ZDFmediathek ab Samstag, 5.10.2024, 10.00 Uhr.

Buch und Regie: Jörg Müllner
Mitwirkung: Ngutijua Hijanguru-Kutako
Kamera: Axel Schneppat
Ton: Andy Kalonda
Schnitt: Patrick Pardella
Grafik: Bernd Schulder
Produktion (ZDF): Philipp Müller, Frauke Wolf
Produktion (History Media): Isa Rekkab
Tonmischung: Holger Jung
Produzent: Jörg Müllner, History Media
Fachberatung: Dr. Jonas Kreienbaum
Redaktion: Anja Greulich
Leitung: Stefan Brauburger

Inhalt

„Ich werde kommen, um mit Dir zu weinen, Ich werde kommen, um deine Tränen zu trocken“. Die gebürtige Namibierin Ngutjiua Hijanguru-Kutako ist eine Herero, singt in der Sprache ihres Volkes und stammt aus einer Familie, in der die Erinnerung an den Genozid vor 120 Jahren – wie in vielen anderen Herero-Familien auch – bis heute präsent ist. Sie sagt: „Die Ereignisse von 1904 bis 1908 sollten uns als Volk auslöschen. Eine Herero zu sein, bedeutet für mich, eine Überlebende zu sein. Im Jahr 2024 hier zu sitzen, als eine Frau, die sich als Herero identifiziert und die Kultur feiert, zeugt von Widerstandsfähigkeit. Das macht uns Herero aus.“

Ngutjiua Hijanguru-Kutako promoviert in Jura an der Goethe-Universität Frankfurt. Als eine der Protagonistinnen erzählt sie in der Dokumentation vom Schicksal ihrer Vorfahren und reist zu den Orten des Verbrechens, etwa nach Swakopmund, wo sich eines der größten Massengräber der Kolonialgeschichte befindet. „Diese Erinnerung ist immer noch in meinen Gedanken. Ich kann sie immer noch sehen, diese kleinen Hügel im Sand. Es sind Gräber ohne Namen. Es ist, als ob die Menschen, die hier begraben liegen, Geister wären. Sie sind verschwunden, als wären sie nie dagewesen. Niemand weiß, wer sie waren. Es ist gut möglich, dass auf diesem Gräberfeld einige meiner Vorfahren liegen, aber das werde ich wohl nie erfahren, denn niemand kennt die Namen der Toten.“

Sechs sogenannte Konzentrationslager ließ die deutsche Kolonialmacht errichten. Besonders hoch war die Sterberate auf der berüchtigten Haifischinsel in Lüderitz, auch "Todesinsel" genannt, wo sich von 1905 bis 1907 das erste deutsche Konzentrationslager der Geschichte befand. Bis zu 3000 Menschen starben hier durch Zwangsarbeit, Krankheiten und Mangelernährung. Gemeinsam mit Sima Luipert, einer Nama – auch sie Nachfahrin von Opfern – gedenkt Ngutjiua Hijanguru-Kutako der Toten auf einer Insel, die heute als Campingplatz genutzt wird. „Meine Ur-Großmutter ist eine Überlebende von Shark Island“, berichtet Sima Luipert. „Nach unserem Besuch auf der Insel habe ich mich gefühlt, als würde ich von einer Beerdigung kommen, ich fühlte mich traurig und erschöpft.“

Forschungsreisende wie der Jenaer Zoologe Leonhard Schultze, an den die Figur von Alexander Hoffmann im Spielfilm erinnert,  brachten damals Körperteile, Skelette und Schädel von Menschen aus der Kolonie nach Deutschland, im Dienst einer rassistisch geprägten Wissenschaft. 2011 gab die Berliner Charité die sterblichen Überreste von 20 Menschen an Namibia zurück, 18 davon waren Gefangene auf der Haifischinsel gewesen. Weitere Rückgaben folgten 2014 und 2018. Noch immer aber befinden sich Schädel und Skelette von Angehörigen der Herero und Nama in privaten und öffentlichen Sammlungen im deutschsprachigen Raum. „Allein die Tatsache, dass Menschen zu Objekten einer Sammlung werden, ist eine Entmenschlichung“, sagt Sima Luipert.“ Sie fordert die Rückgabe aller Schädel und Körperteile, die in der Kolonialzeit nach Deutschland verschleppt wurden.

Die Rückführung menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten ist in Deutschland inzwischen Konsens. Dies ist jedoch ein langwieriger und schwieriger Prozess. Rückgabe heiße im besten Falle Rückgabe an die Nachkommen, also eine bestimmte Familie, erklärt Prof. Larissa Förster vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Tragischerweise können die meisten sterblichen Überreste jedoch nicht identifiziert werden, da ihre Namen nicht aufgezeichnet wurden. „Restitutionen werden immer auch zwischen staatlichen Stellen verhandelt. Das heißt, es sind mehrere Akteure involviert, nicht nur auf der deutschen Seite: die Sammlungen, die Kommunen bzw. die Länder und dann die nationale Ebene. Ähnlich verhält es sich auf namibischer Seite.“ Neben der Rückgabe gehe es auch um Erklärungsarbeit, die von deutschen Institutionen geleistet werden müsse. „Oft wird von der namibischen Seite beispielsweise gefragt: Warum wurden unsere Gräber geplündert? Wofür sind die Gebeine unserer Vorfahren in der Forschung verwendet worden? Warum hat die Wissenschaft in Deutschland damals solche Leichenschändungen begangen?“

Ebenso geht es um kulturelle Gegenstände, die in der Kolonialzeit nach Deutschland kamen. Dazu gehört auch eine kleine Stoffpuppe, von einem Herero-Mädchen handgenäht - ein eher unscheinbares Dokument der Kolonialherrschaft. Jahrzehntelang war die Puppe im Depot des Ethnologischen Museum in Berlin in Vergessenheit geraten, bis sie 2019 bei einem namibisch-deutschen Forschungs- und Restitutionsprojekt entdeckt und mit weiteren

Die Bundesrepublik hat den Völkermord spät und nur insofern anerkannt, dass daraus kein rechtlicher Anspruch auf eine „Entschädigung“ erwächst. In einer gemeinsamen Erklärung mit der namibischen Regierung bezeichnete die Bundesregierung die Gräueltaten während der Kolonialkriege „aus heutiger Sicht“ als Völkermord und stellte - neben einer offiziellen Entschuldigung - lediglich in Aussicht, 1,1 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfe zu zahlen, um so alle finanziellen Ansprüche abschließend zu regeln. Vertreter der Herero und Nama lehnen die „gemeinsame Erklärung“ ab und klagen dagegen, da nur mit der Regierung Namibias, nicht aber mit ihnen verhandelt worden sei.

„Wir wurden von den Gesprächen ausgeschlossen, aber wir haben als Opfer des Völkermords das Recht, direkt mit den Deutschen darüber zu sprechen, wie unsere Wunden geheilt werden können durch Wiedergutmachung oder Rückgabe von Land“, sagt Prof. Mutjinde Katjiua, Paramount-Chief der Herero. Er erklärt, wie schwierig die gemeinsame Erinnerung unter den Nachfahren ist und was aus Sicht seines Volkes geschehen muss, damit die Wunden der Geschichte 120 Jahre nach dem Völkermord heilen können.

Es gehe nicht allein um Schadensersatz, seinem Volk sei alles genommen worden, die Kultur, die Viehherden, das Land, auf dem Herero seit Jahrtausenden lebten – lange bevor die deutsche Kolonialmacht kam.

Einordnung - von Stefan Brauburger, Leiter der Redaktion Zeitgeschichte

Mit „Der vermessene Mensch“ hat das ZDF einen Kinofilm koproduziert, der den Blick auf ein in der Öffentlichkeit zu wenig beachtetes Kapitel unserer Geschichte lenkt, ein dunkles und vor allem für die Nachfahren der Opfer noch immer traumatisches Thema: Völkermord in der Kolonialzeit, verübt von Deutschen, an den Herero und Nama.

Um Hintergründe und Motivation des Verbrechens in Deutsch-Südwestafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen zu führen, Rassismus, Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg, Internierung und Mord, hat der Film von Lars Kraume vor allem die Perspektive der Täter in verschiedenen Figuren gespiegelt. Die Darstellung der Opfer, insbesondere die Rolle der Dolmetscherin Kezia Kambazembi und anderer Leidtragender, soll die Erfahrung Betroffener und die Auswirkungen des seinerzeit verübten Unrechts anhand beispielhafter Schicksale nachvollziehbar machen.

Von vornherein war das Programmvorhaben des ZDF mit der Intention verknüpft, begleitend zur Erstausstrahlung des Kinofilms eine Dokumentation zu zeigen, die vornehmlich die Perspektive der Opferseite einnimmt. Und in der nicht nur Nachfahren der damals in den Tod getriebenen Herero zu Wort kommen, sondern auch der Nama, deren Schicksal im Kinofilm aufgrund der Fokussierung nicht in die Erzählung einbezogen war.

Mit Ngutjiua Hijanguru-Kutako, Sima Luipert und anderen mehr zeigen Protagonist*innen der vierten Generation nach dem Genozid in der Doku, welche Traumata, Unterlassungen, Missstände und Fehldeutungen sich heute noch mit dem Thema verbinden, und wie schwierig der Umgang mit der Geschichte, der Aufarbeitung und der Frage der Wiedergutmachung ist. Sie unternehmen vor Ort eine Zeitreise zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei kann auch die Dokumentation von Jörg Müllner am Ende nur die Situation wiedergeben, die auch heute noch geprägt ist von Verletzungen, Kontroversen, Vorbehalten, Stillstand - aber auch ersten Fortschritten.

Chronik

Chronik
zur Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia

 

1840er Jahre: Im Gebiet des heutigen Namibia treffen deutsche Missionare ein.

1883 Die Inbesitznahme Südwestafrikas durch Deutsche beginnt mit einer Reihe von Landkäufen des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz.

1884: Das Deutsche Reich erklärt Südwestafrika zum „Schutzgebiet“. Später bestätigen die Großmächte den deutschen Anspruch auf der „Berliner Afrika-Konferenz“.

1894: Nach einer Niederlage unterzeichnet Nama-Anführer Hendrik Witbooi unter Zwang einen sogenannten „Schutzvertrag“ mit den Deutschen. Ähnliche Verträge hatte die Kolonialmacht bereits in den Vorjahren mit verschiedenen lokalen Volksgruppen geschlossen. Allmählicher Übergang des Landes der Herero in das Eigentum deutscher Siedler.

1895: Formelle Gründung der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika, sie soll Interessen der Kolonialmacht notfalls mit Gewalt durchsetzen.

1897 Ausbruch einer verheerenden Viehseuche, welche die Herero weiter in die Abhängigkeit der Deutschen treibt.

1904: "Schlacht am Waterberg", unter Generalleutnant Lothar von Trotha erringen deutsche Truppen einen Sieg über den lokalen Führer Samuel Maharero und kriegführende Herero. Zuvor wurden etwa 120 deutschen Siedler und Soldaten durch Herero, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung wehrten, getötet. Von Trotha erlässt einen Vernichtungsbefehl, der die gesamte Bevölkerung umfasst, es kommt zu Massakern. In der Omaheke-Wüste verhungern und verdursten Tausende zuvor vertriebener Herero. Aufgrund der Grausamkeiten wenden sich die Nama unter der Führung von Hendrik Witbooi von den Deutschen ab und beginnen im Oktober 1904 einen Guerilla-Krieg gegen die Kolonialmacht.

1904-1908:  Die an den Kriegen beteiligten Herero und Nama werden ihres Landes und ihrer Herden beraubt, Nach den Kämpfen und Vertreibungen werden Herero und Nama, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslagern interniert. Sie werden auch zur Arbeit für deutsche Unternehmen und Infrastrukturprojekte gezwungen. Deutsche Wissenschaftler nehmen Schädel von Opfern mit nach Deutschland - im Zeichen einer rassistischen Forschung, welche die Überlegenheit der Europäer belegen soll. Überwiegend enteignete oder geraubte Kulturgegenstände werden in deutsche Sammlungen und Museen überführt.

1915: Während des Ersten Weltkriegs verliert das Deutsche Reich die Kontrolle über Südwestafrika, als südafrikanische Truppen das Gebiet besetzen.

1919: Der Versailler Vertrag zwingt Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, seine gesamten Kolonien aufzugeben.

1998: Bundespräsident Roman Herzog besucht als erstes deutsches Staatsoberhaupt Namibia. Noch gibt es über das offiziell bekundete Bedauern hinaus keine Bereitschaft, Verantwortung für vergangenes Unrecht zu übernehmen.

2004: Hundert Jahre nach dem Vernichtungsfeldzug gegen das Volk der Herero bittet Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Namibia um Vergebung für die Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht, die „man heute als Völkermord bezeichnen würde“. Die Bundesregierung betrachtet diese Äußerung seinerzeit als persönliche Meinung. Mehr Entwicklungshilfe wird in Aussicht gestellt. Nach Schätzungen wurden etwa 65.000 von 80.000 Herero und mindestens 10.000 von 20.000 Nama unter deutscher Herrschaft getötet.

2011: Zum ersten Mal werden Schädel aus deutschen Sammlungen an Namibia zurückgegeben. Weitere Rückgaben von Gebeinen folgen 2014 und 2018.

2015: Die deutsche Regierung erkennt erstmals auch in einem offiziellen Dokument des Auswärtigen Amts die Massaker an den Herero und Nama als Völkermord an. Im historisch-politischen, aber nicht in einem juristischen Sinne, aus dem sich Rechtsfolgen und Forderungen ergeben könnten. Beginn des offiziellen Dialogs zwischen Deutschland und Namibia zur Aufarbeitung der deutschen Verbrechen in der Kolonialzeit. 

28. Mai 2021: Nach sechs Jahren Verhandlungen gibt das Auswärtige Amt bekannt, dass eine Einigung in den Gesprächen mit Namibia erzielt worden sei. Laut der getroffenen Vereinbarung erkennt Deutschland in dem Dokument offiziell den Massenmord an den Herero und Nama in den frühen 1900er-Jahren als Völkermord an. Verbunden mit der Zusage, 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre für Infrastruktur und Entwicklungshilfe auszugeben. Dies geschehe nicht im Sinne eines Rechtsanspruchs auf Entschädigung, sondern aus poltisch-moralischer Verantwortung. So ist relativierend von „Gräueltaten, die aus heutiger Sicht als Völkermord bezeichnet werden“, die Rede. Teile der Herero und der Nama begrüßen das deutsche Schuldeingeständnis grundsätzlich, lehnen das „Versöhnungsabkommen“ in dieser Form jedoch ab, gehen dagegen gerichtlich vor. Dabei geht es auch um die Frage einer höheren Wiedergutmachung und der direkten Einbeziehung in Verhandlungen. Zudem wollen Herero und Nama die Rückgabe ihrer Ländereien erreichen.

Februar 2024: In der namibischen Hauptstadt Windhoek spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Trauerfeier für den verstorbenen Präsidenten Geingob von einem "Abgrund aus Gräueltaten, die von Deutschen während der Kolonialherrschaft verübt wurden“ und erklärt: „Hoffentlich kann ich sehr bald und unter anderen Umständen nach Namibia zurückkehren, denn ich bin davon überzeugt, dass es an der Zeit ist, das namibische Volk um Entschuldigung zu bitten“.

2024: Das „Versöhnungsabkommen“ von 2021 und die darin vorgesehenen offiziellen Erklärungen und Zahlungen Deutschlands für Entwicklungsprojekte in Namibia liegen derzeit auf Eis. Opferverbände klagen gegen die Regierung in Windhoek. Die deutsche Bundesregierung lehnt es ab, mit den Nachkommen der damaligen Opfer direkt zu verhandeln, da die Regierung, die völkerrechtlich ganz Namibia vertrete, der Verhandlungspartner sei.

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